Das Milchattentat

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Für die optimale kunstgeschichtliche Erfahrung empfiehlt sich das Abspielen des Audio-Kommentars bei gleichzeitiger kontemplativer Betrachtung des Bildes. Die Inhalte können auch in Textform (s.u.) konsumiert werden.

Zu allen Zeiten haben Frauen ihre Neugeborenen dem Tode übergeben. Dieses Bildnis eines anonymen Zeitzeugen erzählt eindringlich und in liebevoll gearbeiteten Details die Geschichte einer abgestumpften Mutter, die von sozialer Not getrieben ein Milchattentat am eigenen Kinde verübt. In ihrem Antlitz hat die Lebensmüdigkeit sich niedergelassen. Schlaffe Klapplider schieben sich über die trockenen Augäpfel. Die Frau beherrscht ihren tödlichen Handgriff wie den Zug einer Pistole: präzise hat sie die einsatzbereite Brust mit der giftigen Milchzubereitung zwischen Zeige- und Mittelfinger platziert. Die vor Schreck weit aufgerissenen Augen des Kindes, die unter einem Paar dynamischer Brauen aufzucken, sind hilfesuchend auf den Betrachter gerichtet. Der Milchstrahl schießt in den Mund des Kindes, verfehlt ihn jedoch knapp, und bleibt wie unnützer Speichel am Mundwinkel hängen. Eine Errettung? Sind wir die Erretter? Ist es unsere Anwesenheit, die die Aufmerksamkeit des Kindes erregt und den tödlichen Schuss aus der Mutterbrust ins Leere gehen lässt?

Nur einige der Fragen, die das Bild uns aufwirft, lassen sich beantworten. Kleidung und Kopfputz der Frau geben uns Auskunft über das Milieu aus dem sie stammt und legen die Motive ihrer schrecklichen Tat zutage. Ihr Haar ist zu kleinen strammen Zöpfen geflochten, die von einem billigen Haarreif aus Plastikperlen im Zaum gehalten werden. Die Frau hat eine Mülltüte über ihr Haupt gestülpt, die in der Pädagogischen Bulle von Papst Pius dem Dreizehnten als preiswertes und effizientes Erstickungsinstrument für unerwünschte Leibesfrüchte propagiert wird. Wir müssen davon ausgehen, dass die Frau beabsichtigt, sich nach vollstreckter Tat auf diese Weise selbst das Leben zu nehmen. Über den morbide geschmückten Kopf hat die Rabenmutter eine schwarze Decke aus indischer Massenproduktion geworfen, die sich wie ein Mantel des Schweigens über ihre verderbliche Absicht legt. In der Trauerfarbe schwingt unüberhörbar die Melancholie postnataler Depression mit. Wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass die Mutter in der afroamerikanischen Sprechgesangszene sozialisiert wurde und im finsteren Ghetto zuhause ist. Unterstützt wird die These vom protzigen Hintergrund aus Zahngold, das einer Substanzanalyse zufolge aus dem Mundraum eines ermordeten Zuhälters stammt.

Noch deutlicher wird das, wenn unser Blick zum krausköpfigen Kinde hinab gleitet, das der Maler geschickt zwischen zwei leeren Eierkartons positioniert hat. Sie sind der Inbegriff des Unflats, der den ungünstigen Lebensraum markiert. Das Kind, das in die verhängnisvollen Hände seiner Mutter geworfen scheint, kleidet nur das eigene Fleisch. Die Haut weist einen eigenen Faltenwurf auf, der eigenwillig Kragen und Ärmelaufschläge formt. Das bereitgelegte Leichentuch, das den Unterleib des Kindes verdeckt, scheint wie mit dem Körper verwachsen. Eine Metapher für unentrinnbares Schicksal? In den Händen des Kindes baumelt eine Kette, die aus der Perlenreihe eines Rechenbretts gewonnen wurde. Der Künstler möchte uns damit auf die Bildungsferne einer Frau hinweisen, die mit der wunderbaren Welt der Mathematik nichts weiter anzufangen weiß als sie für eitle Zwecke zu Schmuck umzudeuten.

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