Wie die meisten anderen meiner Generation verbrachte ich meine Jugendjahre im Glauben, Gänsefüßchen wären kein großes Ding. Wären sie ein großes Ding, würden sie Albatrosfüßchen heißen und regelmäßig für Zwietracht in Sprachdiskursen sorgen. Nichts dergleichen. Nur selten sah ich Gänsefüßchen von der Anklagebank der Stilpäpste baumeln, geschweige denn, dass sie mein eigenes Weltschmerzzentrum je erbeben ließen. Doch ihre Störkraft sollte sich mir bald in der Gestalt einer schwerstintelligenten ukrainischen Studentin offenbaren: Wann immer sie im Seminar etwas referierte, legten ihre Lider ein Geflatter an den Tag, als würde sie Signale aus dem Jenseits empfangen, während ihre Fingerchen ununterbrochen in Ohrhöhe herumzuckten, um jedes zweite Wort mit Anführungsstrichen zu markieren. Ihre Reden versetzten mich in Angst und Schrecken; sie erinnerten mich zuweilen an die Sprechblasen des Vögelchens Woodstock. In einem vertraulichen Moment (sie trug ihr Eistütenpyjama, ich bürstete ihr das drahtige Haar) fragte ich vorsichtig, was eigentlich in ihrem Kopf vorging, wenn sie am Rednerpult stand. Da piepste sie mit süßer Vorspulstimme: „Zu viele Wörter! Zu wenig Zeit!“ Es gäbe unendlich viele Möglichkeiten, einen Gedanken auszudrücken, erklärte sie, so dass man (zumindest unter Zeitdruck) nie sicher sein könne, ob man aus dem Angebot das richtige gewählt hätte. Mit den Gänsefüßchenbewegungen distanziere sie sich von den Wörtern, entschuldige sich im Voraus für sie, sollten sie nicht die ideale Passform haben. Was für ein Freak!
Einige Jahre später entdeckte ich in privater Korrespondenz, dass ich selbst und alle, mit denen ich gern kommunizierte, von Gänsefüßchen geradezu besessen waren. Kaum ein Satz, der nicht das Stigma unseres Distanzierungswillens trug. Floskeln, Euphemismen, Fachjargon, Jugendslang, Klischees: Gänsefüßchen waren unsere Tütchen für die Kothaufen der Sprache. Apostrophierte Wörter, das sind immer die Wörter der „Anderen“. Wenn ich „Unterschicht“ sage, dann meine ich, dass mir die unbequemen Konnotationen bewusst sind und man mir doch bitte wegen des Wortgebrauchs keine feindliche Gesinnung gegenüber „bildungsfernen“ ( :-] ) Menschen unterstellen soll. Apostrophiere ich allerdings eine Floskel wie „Alles Gute!“, dann meine ich paradoxerweise, dass ich es wirklich so meine. Ich distanziere mich damit von der allgemeinen Auffassung, dass Floskeln „Worthülsen“ mit verlogenem Inhalt seien, und dass ich „Worthülsen“ apostrophiere, soll wiederum zeigen, dass ich belesen genug bin, um zu erkennen, wie ausgelatscht dieser Ausdruck ist.
Es scheint, als wäre Sprache eine einzige Hinterfotze, die eine Grundparanoia notwendig macht. Nie meint sie, was sie sagt, nie sagt sie, was sie meint. Ja ist nein, gut ist schlecht, man möchte sie in die Tonne kloppen. Aber ist Eintüten von sprachlichem Unrat die Lösung? Soll Hass auf das Wort die Antwort sein? Auch in den Reihen derer, die Selbstmord mutig finden und ständig in irgendwelchen philosophischen Krisen stecken, gilt es ja als chic, die Sprache als Last zu begreifen, als ein notwendiges Übel, das uns seine eigene Ordnung aufzwingt und alle Erfahrung limitiert. Sie mögen Sprache nicht, weil man sie mit anderen teilen muss; sie bemitleiden sich dafür, sie mit einem Teil der Menschheit gemeinsam zu haben. Diesen kühnen Vorwurf wage ich deshalb, weil ich das Argument, Sprache behindere Gefühle, für totalen Quatsch halte. Sprache ermöglicht Gefühle! Wer das nicht nachvollziehen kann, sollte mal ein gutes Buch lesen. Die Erfahrung ist keineswegs begrenzt durch die paar Buchstaben, die zu ihrer Beschreibung zur Verfügung zu stehen scheinen.
„The world is but a canvas to the imagination“, schreibt Henry David Thoreau, und ich ergänze: wenn die Welt eine Leinwand ist, dann ist Sprache der Malkasten, der uns ermöglicht, anderen zu zeigen, was wir mit dieser Leinwand anstellen. Ich möchte mir Sprache als Aquarellmalkasten denken, der eine begrenzte Anzahl von Farbnäpfen enthält. Aber nur Ungeübte und Angstmolche werden die Leinwand mit einer einzigen Farbe bepinseln. Wir anderen wissen, dass es nicht die Farbe als solche ist, die Stimmungen macht. Die Wirkung einer Farbe entfaltet sich erst im Zusammenspiel mit anderen Farben, und genauso ist es mit der Sprache. Ein weiches Wort mag die Härte eines Ausdrucks mildern, eine geschickte Aufstellung auserlesener Vokabeln dem ganzen Satz eine elegante Erhabenheit verleihen, die an anderer Stelle durch eine plumpe Redewendung wieder in Frage gestellt werden kann. Die einfachste, und doch nicht einfache Art des sprachlichen Einfärbens ist die Verwendung von Synonymen. Was jedoch an Schindluder mit Synonymen getrieben wird, macht viele Leinwände, die man mir entgegen hält, zu einem unerträglichen Anblick und war letztlich auch der Auslöser für diesen Blogpost. Speziell:
• Es gruselt mich vor der Auffassung, der Gebrauch von möglichst vielen Synonymen sei ein Zeichen von Wortgewandtheit und gutem Stil. Allzu oft ist es das Gegenteil. Ich möchte keinen Liebesbrief bekommen, in dem der Verfasser erst von seinem Herzen, dann von seinem „Pumporgan“ spricht. Wortwiederholung ist nicht immer ein stilistischer Fehler!
• Von zwanghafter Suche nach Synonymen scheinen auch Schriftsteller besessen zu sein, die sich mit so simplen Verben wie „sagen“, „fragen“ und „antworten“ nicht abfinden wollen. Man muss dann solche Sachen lesen: „Bla?“, ließ sie ihre Stimme erklingen. „Na… Blabla.“, röchelte er heiser. „Ach, bla.“, trötete sie ihm entgegen, bevor er „Bla bla bla?“, durch den Flur echote. „Bla.“, murmelte sie darauf leise, aber er bellte nur: „Blaaa blabla…“.
• Ein weiteres Ärgernis stellen Archaismen (also veraltete Ausdrücke) dar, die munter als Synonym verwendet werden, wo sie nichts zu suchen haben. Wenn unsere Kanzlerin wieder jemanden „vergrämt“, oder das Volk „bräsig“ gestimmt ist, dann will ich mich vielleicht im Satiremagazin Titanic befinden, aber ganz bestimmt nicht in einem SPIEGEL-Artikel. Zugegeben fände ich das nur halb so schlimm, wenn ich die Hintergedanken der Autoren nicht immer hören würde: „Das passt hier zwar irgendwie nicht rein, aber zeugt von meinem großen Wortschatz. Und ich muss das jetzt bringen, hab ja nicht umsonst vier Stunden mit dem Wörterbuch verbracht. Außerdem: bräsig! LOL!“
• Archaismen wird automatisch unterstellt, humoristischen Wert zu haben. Bei Max Goldt mag das der Fall sein. Er nutzt sie als Element seines süffisant-onkelhaften Tons und überrascht dann auch tatsächlich mal mit einem seltenen Fund. Von Eigenwitzlachern begleitetes „frönen“, „frohlocken“, „huldigen“, „wallendes Haar“, „holde Maid“ und dergleichen sollte man jedoch nicht reproduzieren. Außer, man gehört einer sechzehnjährigen Metal-Jugend an, die vor dem LARP-Wochenende roten Wachs auf erfundene Mittelalterdokumente tröpfelt.
Warum ich in meiner Wahl der Metapher einen Aquarellfarbkasten einem Batzen Ölfarbtuben vorziehe, ist meine Überzeugung, dass Sprache trotz aller Einfärbemühungen klar bleiben sollte. Synonyme sind der Präzision wegen da, nicht für barockes Sprachgeprotze. Mit den vielen Farben und Abstufungen, die der Malkasten der Sprache offeriert, sollte man Inhalten einen distinkten Ton verleihen und nicht das Leere und Nichtssagende überpinseln. Auf Aquarellbildern ist die Skizze noch sichtbar, und genauso sollte der Gedanke unter den sich überlappenden und ineinander fließenden Farbflecken hindurchscheinen, wenn wir mit Texten überzeugen wollen. Ist der Gedanke nicht mehr sichtbar, waren alle Synonyme umsonst.
Ein Tipp noch für alle, die auf Nummer sicher gehen wollen, dass ihre Gänsefüßchen nicht als nervöser Tick, sondern als Missmut gegenüber den geäußerten Wörtern verstanden werden: es empfiehlt sich das Tragen von Fingerpuppen, da sie beim Apostrophieren „erbrechen“.
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Du hast Recht, wenn man Text als Aussage verstehen möchte, die einem Empfänger etwas möglichst präzise vermitteln möchte. Es mag manchmal frustrierend sein, dass man weiß, dass diese Präzision immer nur eine Annäherung an die Wahrheit ist. Fürchten muss man sich davor nicht. Macht das abstrakte Malerei oder Wortgebilde ohne Intension damit überflüssig, deren Inhalt dem Betrachter überlassen bleiben? Besteht nicht auch in der Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten der Sprache oder Malerei ihre Schönheit? Schau Dir ein Kinderbuch mit Wimmelbildern an oder die Bedeutung der japanischen Flagge. Beides kann nicht unterschiedlicher sein und trotzdem besteht in beiden Ausdrucksformen ein gewisser Reiz. So lange man nicht ein Potpourri verwendet, bei dem alle Farben und Worte letztlich nur die Interpretation eines einheitlichen Schwarz zulassen, empfinde ich die offene Möglichkeit des Sprach- und Bildraumes als erfreuliche „Spielwiese“ ;-), auf dem alle Worte und Farben herumtollen dürfen, wie sie möchten. Ich würde es zudem als außerordentlich schade empfinden, wenn man veraltete Worte nicht mehr verwenden dürfte und damit ein üppig gedeckter Tisch endgültig an einen reich gedeckten Tisch verloren ginge, so lange es opulent gedeckte Tische noch gibt. Neben meinem Bett steht ein Nachttisch, auf dem ein Druck integriert ist, auf dem steht „It’s not what you look at that matters. It’s what you see“
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http://www.neatorama.com/2011/11/03/air-quote-mittens/ landete eben in meinem Feedreader — und ich musste an dieses Posting denken. Der Gänsefußwahn greift weiter um sich…
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„Sprache ermöglicht Gefühle“ stimmt. Früher fühlte ich mich dumpf schlecht, heute kann ich auch dank der Sprache präziser sagen, was mich quält. Wenn ich englisch spreche ist meine Ausdrucksweise wenig differenziert und nach ein paar Wochen passen sich meine Gefühle etwas dem Schwarz-Weiss-Schema an, grässlich.
Die Gänsefüßchen und das „eigentlich“ und „irgendwie“ entstammen teils einer Feigheit, sich zu bekennen und teils der Unfähigkeit, den richtigen Ausdruck zu benutzen. Beides geht mir auf den Wecker.
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ich kenne das problem an mir selber. aber: wie man weiß, hat schreiben mit ausdruck und ausdruck mit charaktereigenschaft und die wiederum mit wesensmerkmalen zu tun.
soll meinen: flattrige, fahrige und also unstete geister sind oft ganz vernarrt in „ihre“ gänsefüßchen. man soll sie deswegen nicht schelten. jeder schreibt so gut er kann , nicht immer für den nebenmann. nun aber mal was anderes: ihr text ist ein kleines musikalisches kunstwerk in itself. verbeugung.
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Die Frage scheint zu sein, wie man in der Postpostmoderne zu schreiben hat.
Postmoderne besitzt ja eine gewisse Nähe zur „Copia“ des Barock,was du „barockes Sprachgeprotze“ nennst. Vielleicht ist das Unwohlsein mit diesem arabesken Stil der Tatsache geschuldet, dass er heutzutage mit einem Thesaurus, Google u. Wikipedia leicht und im inflationären Maße herzustellen ist, während solche Autoren wie Gaddis,Pynchon oder David Foster Wallace noch aus ihrer immensen Bildung schöpften.
Wir leben ja bereits in der „Fülle“ des Informationszeitalters und können gut jemanden gebrauchen, der Klarheit, Präzision und Linearität wieder zurück bringt.
Daher also vielleicht die Wiedergeburt des klassischen Erzählens.
Was mir nur auffällt, ist, dass du mit deinem Bekenntnis zur Klarheit genau auf der Linie angelsächsischer Schreibcoaches bist, die predigen, wie ein Text auszusehen hat. In Stephen Kings „On Writing“ schreibt er darüber das „said“ und „asked“ für den Leser „unsichtbar“ seien und mithin nach Möglichkeit nicht durch vermeintliche Synonyme ersetzt werden sollen. Das ist mittlerweile unter den Lehrmeistern des Schreibens Konsens. Adverbien sind ebenfalls restlos auszumerzen. Für jede Abweichung wird dem Autoren damit gedroht, dass sein Buch schwieriger zu vermarkten und weniger erfolgreich sein wird. Dann werden munter Beispiele aufgezählt, was Lovecraft und Tolkien alles falsch gemacht hätten und wie sie heutzutage auf dem Buchmarkt baden gehen würden. Dieses vorbehaltlose Andienen an Konsumierbarkeit und Vermarktung halte ich für problematisch.
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„LOL“
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„Ich möchte mir Sprache als Aquarellmalkasten denken, der eine begrenzte Anzahl von Farbnäpfen enthält.“
Was bei bildhaft-konkreten Symbolen, insbesondere bei Kunstwerken, uns als eine selbstverständliche Charakteristik erscheinen mag – nämlich dass sie in sich selbst einen Sinnzusammenhang präsentieren, der unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und nicht nur als Verweis auf etwas anderes weiterleitet -, dies bleibt bei symbolischen Konfigurationen, die innerhalb von Systemem schematisch-abstrakter Symbole gebildet werden, eher verdeckt. Als Konfigurationen von Elementen eines Systems, verweisen sie auf dim Prinzip UNBEGRENZT viele Konfigurationen in eben deisem System, und sie würden ohne diese Verweise nicht einmal selbst in ihrer eigenen Identität erkennbar, als sprachliche Fügungen nicht einmal verständlich werden. Jeder sprachliche Ausdruck, den wir bilden, jeder Satz, den wir sagen, ist nur als Ausdruck, als Satz einer bestimmten Sprache verständlich.
Dies wird auch nicht dadurch widerlegt, dass wir manchmal einen Ausdruck, einen Satz einer anderen Sprache auch dann – allerdings nur im groben Umriss des Gemeinten – verstehen, wenn wir die Sprache selbst noch nicht oder nur in ihren Anfängen beherrschen. Ist ein solches fremdsprachliches Verständnis Fall, in dem wir überhaupt ienen sprachlichen Ausdruck, einen Satz verstehen, gehört die Verweisung auf das Ganze einer sPrache, d.h. auf eine offene Menge anderer Ausdrücke dieser Sprache, zu den grundlegenden Bedingungen dieses Verstehens.
Geschlossenheit der Sprache
Gleichzeitig ist zu sehen, dass durch diesen Verweisungszusammenhang das Verbleiben innerhalb der Grenzen der Sprache nicht mehr als eine hinderliche Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten und -absichten erscheint. Denn da nicht nur die Verweisungsmöglichkeiten, sondern auch die Mglichkeiten zur Bildung solcher Ausdrücke im Prinzip unbegrenzt sind, richten sich ja für unsere sprachliche Artikulationstätigkeit keine Grenzen auf. Wir können jederzeit und überall über alles reden oder auch schreiben und dies in einer immer neuen oder auch nur anderen Weise.
Mit dieser INTERNEN UNBEGRENZTHEIT der sprachlichen Artikulation wird nicht nur die eine Begrenzung auf spachliche Artikulation verdeckt, sondern es entsteht ein darüber hinaus auch eine dieser Artikulation immanente Tendenz auf diese Begrenzung. Die jederzeitige Möglichkeit, etwas auch anders zu sagen und über anderes etwas zu sagen, mindert die Motivation, im Vollzug unserer Weltorientierung überhaupt etwas anderes zu tun als etwas zu sagen. Die Welt unserer Reden und Texte schließt sich dann zu einem eigenen Reich lückenlos miteinander verflochtener Artikulationsmöglichkeiten zusammen, dessen Grenzen schon darum nicht in den Blick geraten, weil sie durch immer neue Artikulationen jederzeit verchoben werden zu können scheinen.
Oswald Schwemmer, kulturphilosophie