Im zweiten Kapitel begleiten wir Malina in die Sozialwohnung ihrer Familie. Es ist ein Mehrfamilienhaus aus der Nachkriegszeit, ein muffiger Spießerblock für verarmte Rentner und Langzeitarbeitslose. Malinas Eltern, die in den 1980er Jahren aus Polen nach Deutschland gekommen sind, träumen von sozialem Aufstieg. Wenn sie es sich aussuchen könnten, würden sie sich eines dieser Häuser kaufen, „wo Türen und Fenster extra auf alt gemacht sind“. Was Malina meint, ist der Landhausstil bzw. das Landstilhaus, das in den 90ern (aber auch schon vorher) die Materialisierung einer Mittelschichtsphantasie darstellte. Nicht wenige aus meiner Klasse lebten damals in solchen Häusern: Heimelige Beinahe-Schlösschen mit Erkern, Türmchen, verwinkelten Außenwänden und weißen Sprossenfenstern, mit repräsentativem Vorgarten und vorinstalliertem Golden Retriever.
Als Kind versetzte mir der Anblick solcher Häuser einen Stich ins Herz. Es war der Stich des Neides und der Wehmut angesichts der eigenen niederen Geburt … Hätte ich nur damals schon den distinguierten Blick gehabt, der in diesen Kataloghäusern den Inbegriff des Kitsches erkennt! Doch was hätte es mir genützt, als Kind will man ja betrogen sein. Ich wollte ja auch dran glauben, dass im Disneyland Micky und Donald rumlaufen und keine in Plüschsäcken schwitzenden Ferienjobber. Unter Architekten, die was auf sich halten, gelten Landstilhäuser jedenfalls als röhrender Hirsch des Bauwesens. Man versteht auch, warum: Unreflektiert werden angeblich volkstümliche Bauelemente mit neumodischem Baumarkt-Schnokus zusammengewürfelt, um die Illusion einer über Jahrhunderte gewachsenen Heimeligkeit zu schaffen. Das Ergebnis bedient die sentimentalen Gefühle der breiten Masse und ignoriert die lokalen Bautraditionen komplett. Sehr viel schlimmere Blüten hat der Kataloghauswahn in Polen getrieben, doch dazu in einem späteren Kapitel mehr.
Malina entgeht nicht, dass zwischen dem großen Aufstiegswillen ihrer Eltern und dem Ergebnis ihrer Bemühungen eine gewaltige Kluft besteht. Sie macht das u.a. an dem „traurigen, gelbstichigen Parfumrest im Yves Rocher-Flacon“ fest. Mittlerweile hat Yves Rocher Filialen in nahezu allen deutschen Großstädten, in meiner Jugend jedoch war Ives Rocher ein Kosmetikversand, der sich mittels dicker Wurfsendungen an verträumte Hausfrauen heranwanzte. Es gab Kataloge und Broschüren, Werbezettel und Werbebriefe – nur echt mit dem kleinen Porträtfoto des Unternehmers, eines reifen Mannes mit Phil-Collins-Glatze, der genau zu wissen schien, was Frauen wollen: Anti-Falten-Cremes, Pflegepeelings und verspielte Parfum-Flacons, die in Form und Duft an Lilien, Orchideen und Rosen erinnerten. Der Clou: Die Luxus-Kosmetik war immer im Sonderangebot oder mit einem Aktionspreis versehen. Hausfrauen und Kinder konnten sich die Zeit damit vertreiben, vorgestanzte Produktmärkchen herauszutrennen und auf den Bestellbogen zu kleben. Für die Schnellsten gab es immer wieder Werbegeschenke von Yves, meistens irgendwelche knisternden Kosmetiktäschchen von übelriechender Qualität.
Für heranwachsende Mädchen war Yves Rocher eher nichts. Wir begannen unsere Müffelkarriere mit dem Kinderparfum von Oilily.
In der siebten Klasse war das natürlich schon wieder zu kindisch. Aber war man denn wirklich schon erwachsen? NAF NAF war das ideale Eau de Toilette für diese schwierige Übergangszeit. Der Flacon war nicht so albern blumig bunt wie der von Olily und erinnerte trotzdem an die Plastikschnullermode, der sich auch manch 16-Jährige(r) unterwarf.
Spätestens, als man anfing zu rauchen und sich vor der Schule betrank, kam nur noch ein Parfum in Frage: CK One. Es roch wirklich gut, frisch, leicht, cool – und sah aus wie ein eisbeschlagener Flachmann. Es war Unisex, passte also auch zu Mädchen, die Tomboys waren oder anderweitig aus den Geschlechternormen herausfielen. Die Werbung für CK One war außerdem der Auslöser des Heroin-Chic-Trends. (Nicht zu vergessen auch die Calvin Klein Unterwäsche, allen voran die Unterhose, deren Gummibund unbedingt aus der Jeans zu lugen hatte. In einer Ausgabe der BRAVO Girl! gab es mal eine kleine Bastelanleitung, wie man sich aus einer CK-Unterhose durch Heraustrennen des Schrittes ein bauchfreies Top basteln konnte. Na ja.)
Malina erzählt uns von der Vorliebe ihrer Mutter für die Farbe Weiß. Den Fimmel führt sie auf deren übermäßigen Konsum der Ferrero-Raffaelo-Werbung zurück. Schaut sie euch an, dann wisst ihr wieder, welche Botschaften hier vermittelt werden: Reiche Menschen, die einem luxuriösen Lebensstil frönen, tun das immer in schneeweißen Klamotten. Und: Raffaelo-Kugeln sind ein Luxus-Produkt. Ein Schmankerl für die Elite. Und da es sie trotzdem zu Supermarktpreisen gibt, darf man schon mal in Phantasien schwelgen… Das Luxus-Narrativ kommt auch in der legendären Werbung für Ferrero Rocher zum Einsatz (so stelle ich mir heute übrigens neureiche Russen vor). Der Claim mehrerer Rocher-Spots: „Adel verpflichtet.“
Nachdem sie sich gestritten haben, kommt Malinas Mutter mit einer Schachtel Merci-Pralinen ins Zimmer. Ich weiß zwar nicht, warum ich hundsgewöhnliche Schokolade in langweiligster Riegelform mit Reichtum und Status assoziierte, doch dieser Tweet von Mogelpony beweist, wie sehr wir die Werbebotschaft verinnerlicht haben.
Symbolbild „Ich habs geschafft“. pic.twitter.com/yijkgWmgJO
— Geblockter Account (@mogelpony) 30. Mai 2015
Auf Malinas Schreibtisch stapeln sich CDs, die sie sich in der Stadtbücherei ausgeliehen hat. Compact Discs, wisst ihr noch? Scheiben, die man ohne Ironie „Silberlinge“ nannte. Alben im Jewelcase, diese Klapperhüllen, wo der gezahnte CD-Haltering nach einmal runterfallen komplett zertrümmert war. Zum Booklet (super wichtig wegen der Texte!) gab es meistens noch einen Gratis-Umfrage-Zettel dazu. Da musste man ankreuzen, wie man auf die gekaufte CD aufmerksam geworden war. Also Freunde/Bekannte, TV- und Rundfunkwerbung oder Sonstiges. CDs waren ziemlich teuer, das Album so um die 30 DM, was meinem damaligen monatlichen Taschengeld entsprach. Da war höchstens mal ein Album mit NICE PRICE Sticker drin (Best of von Cher, oh bitte.) oder eine Maxi-CD, eine sogenannte „Single-Auskopplung“: Diese dummen Erzeugnisse, die zwischen 10 und 12 DM kosteten, bestanden aus 3-5 Tracks; also dem Originalsong (Radio Edit) und ein paar schlechten Remixes unbekannter DJs. Hin und wieder gab es eine Instrumentalversion, wo man irgendeinen Schwachsinn drüberrappen konnte (was ich mit 15 in jeder freien Minute gemacht habe). Da ich ein absoluter Musikfreak war, verbrachte ich jeden Tag nach der Schule mindestens eine Stunde im Plattenladen, checkte Neuerscheinungen aus und Bands, von denen ich auf den T-Shirts der Langhaarigen gelesen hatte. Eine Methode, von der ich ziemlich oft Gebrauch machte, war, mir die CD zu kaufen, sie zu Hause auf Kassette zu überspielen und anschließend zurückzubringen mit der Ausrede „Die hat mein Vater schon.“ Viel zu spät habe ich entdeckt, dass man sich die geilste Musik auch in der Stadtbücherei leihen kann. Die hatten vor allem auch Sachen, die nicht im Nachmittagsprogramm von VIVA liefen: The Smiths, Smashing Pumpkins, Type 0 Negative und The Cure haben mein Leben verändert. Danke, Stadtbücherei Grevenbroich!!!
Malina vergleicht ihre Mutter an einer Stelle mit „so eine(r) verständnisvolle(n) Fernsehmutter aus Beverly Hills 90210“. Sie meint mit Sicherheit Cindy Walsh, die Mutter der Zwillinge Brenda und Brendon Walsh aus der Serie, über die Anfang der 90er wirklich JEDER sprach. Beverly Hills 90210 war für mich (12) ein einziges Aufklärungs- bzw. Verklärungsprogramm über das Leben als Teenager. Nur noch ein paar Jahre, dann würde ich auch: aussehen wie Anfang 30, mich mit gefälschtem Ausweis, im eng anliegenden Cocktailkleid in einen Nachtclub schmuggeln, von meinen Freundinnen im Cabrio in die Schule kutschiert werden, muskulösen Jungs beim Surfen zusehen und mir in der Schulkantine „Sojasprossen“ bestellen, weil ich auf meine Linie achte. Klingt heute bescheuert, doch ich liebte diese Serie abgöttisch. Ich besaß das Fanbuch und die Romane von Mel Gilden, sogar die Panini-Sammelkarten. Erinnert ihr euch an das Beverly Hills Feeling? Schaut euch das Intro an! Nein, schaut euch am besten die ganze erste Staffel an! Ihr werdet es nicht bereuen. Allein schon die Mode ist es wert!!!
Und jetzt ihr! Gehört ihr zu den Landstilhaus-Kids oder haben eure Mütter bei Yves Rocher bestellt? Welche Parfums und Eau de Toilettes, die ich nicht erwähnt habe, habt ihr benutzt? Erzählt mit alles über eure Musikbeschaffungsmaßnahmen! Wie habt ihr von neuer Musik erfahren? Reichte das Taschengeld aus? Und zum Thema Beverly Hills: Brandon oder Dylan? Branda oder Kelly?
PS: Wer es noch nicht hat, kann hier mein Buch bestellen. Oder kauft es wie jeder normale Mensch im Buchladen eures Vertrauens. In ein paar Tagen geht es weiter mit Kapitel 3!
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Was mich getriggert hat war aber der Hühnchenwecker mit Uhr auf der Wampe. Den hatten wir sogar zweimal! Das plärrende „Guten morgen!“, wenn man auf den Kamm gedrückt hat, klang so schön fröhlich.
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ORRR Sebastian! Danke für’s SPOILERN! ;D Dieser Wecker wird hier lang und breit behandelt, aber erst bei Kapitel 5!
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Ach Schreck! Ich hatte das im 2. Kapitel verortet, ich bin da so durchgeflutscht! Dafür gibt es hier ein Foto meiner allerersten Maxi-CD, die ich mir 1993 kaufte. Nicht, dass ich sie mir die letzten 20 Jahre mal angesehen habe, aber erst jetzt erkenne ich, wie frech auf der CD selbst einfach mal gar nichts zum Titel steht. „See booklet inside for Details“. Haha!
Persönliches BH902010-Trauma: Wir waren sehr arm und bei Klamotten schauten wir, wo es die günstigen zu holen gab. Natürlich im „Schnapp zu“. Ich weiß gar nicht, ob die Kette deutschlandweit bekannt ist, es gibt auch ähnliche wie „Greif zu“ etc. Dort gab es auch T-Shirts mit sicher nicht lizensiertem Serienaufdruck. Manchmal was cooles wie die Turtles, aber ich hatte eben auch ein T-Shirt mit dieser coolen Clique drauf. Und zwar viiiieeeeel zu lang. Und das als Junge!
Irgendwann war ich dann aber Gott sei Dank stilsicher genug für Fishbone.
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OMG – Das sehe ich ja erst jetzt! :D Die Bestie in Menschengestalt! *smiley mit Herzaugen und Zugabe von Tränen* – Da hab ich mir gleich das Album gekauft und bereute nichts außer dem Pillemann des Teufels, der mich zwang, diese CD (zusammen mit der Maxi von „Max don’t have Sex with your Ex“) in einem Versteck aufzubewahren. ;)
„Greif zu!“ kenne ich leider nicht. Wohl was Regionales…? Hast du denn schon mal was von URBAN gehört? War in der Rheingegend um Köln und Düsseldorf DER Billigladen, der auch gefälschte Barbies und MeinkleinesPonies führte (und Sachen von Simba). Klamotten gab es aber bis zum 11. Lebensjahr nur von Aldi und C&A. Für ein 90210-Shirt hätte ich alles gegeben! Meine erste Marke war übrigens „Fruit of the Loom“, das konnte man sich selbst als armes Kind leisten, wenn man nur genug bettelte.
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Die Maxi war Schrei nach Liebe (das war dann meine erste CD), das Album Bestie in Menschengestalt kam dann gleich darauf. Einen Pullerteufel hatten aber beide. Das war mir mit 12 fast noch zu hoch und verspielt, weil da nicht nur so Punklieder drauf waren mit Gitarre, sondern auch auf einmal ein Tango. Jahre später die Feststellung: eigentlich das beste Ärztealbum. URBAN kenne ich leider nicht, Fruit of the loom war toll und ist immer noch die Marke, wenn man sich irgendwo T-Shirts drucken lässt :) Erste C&A-Marke: Rodeo!
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Die Parfums hatte ich alle. Toll waren auch die Lippenstift-Proben von Yves Rocher, die sahen so süß aus.
Ich hatte ein Kissen von Beverly Hills: Dylan auf der einen Seite, Gruppenfoto auf der anderen. Ich fand Brenda besser als Kelly.
Den Huhnwecker hatte ich auch!
Danke für diese Reisen in die Vergangenheit.
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Also ich hatte ab etwa Mitte der 90er in meinem Kinderzimmer einen uralten Fernseher stehen, den meine Eltern kostengünstig gebraucht bei „Onkel Jurek“ für mich erstanden haben. Das war ein ziemlich großes Gerät, Marke ITT, das so alt war, dass man Anschlussformen wie Cinch oder Scart bzw. eine gewöhnliche Klinkenbuchse für Kopfhörer vergeblich daran gesucht hat. Angesagt war bei diesem Gerät noch Antennenanschluss und 5-Poliger DIN-Anschluss… letzteren besaß auch mein alter Kassettenrecorder. Inspiriert von meiner Mutter, die Musiksendungen gerne mal auf VHS aufzeichnete, nahm ich also Musik von VIVA und MTV auf MC auf, und hatte so direkt was für meinen Walkman :-D
Die Stadtbücherei als Entleihstelle für CDs entdeckte ich dann auch irgendwann, so um die Jahrtausendwende. (Bei mir war es aber nicht die Stadtbücherei Grevenbroich, sondern die im zwanzig Kilometer entfernten Bergheim, wo ich aufgewachsen bin :-D) Die Auswahl war zwar relativ überschaubar, da mein Musikgeschmack jedoch bereits im Alter von 11 Jahren nicht mehr auf die Charts beschränkt war, konnte ich meistens was Interessantes finden.
Wenn man so darüber nachdenkt, welchen Aufwand man damals betrieben hat, um auf günstige Weise an Musik zu kommen… Und heute mokiere ich mich schon darüber, wenn irgendein spezieller Bluegrass-Titel in meiner 9,99€/Monat-MusicFlat nicht enthalten ist^^
Was mir noch einfällt: Ab etwa 1999 hatte ich einen portablen MiniDisc-Recorder… Wer kann sich an diese kleinen Scheiben in ihren Plastikgehäusen noch erinnern?^^ Eingeführt wurde das System ja schon zu Beginn der 90er, aber richtig durchgesetzt hat sich diese Technik ja nie wirklich.
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Ich hatte von den Parfüms nur das von Oilily. Gab es danals als ‚Bonus‘ für’s Babysitten der Nachbarskinder an Sylvester. Die anderen Parfüms hatte ich nicht, dafür aber auch die Plastikschnuller in den DocMartens.
BH90210 war ebenfalls bei mir ein Must. Och mochte Dylan und Brenda am liebsten.
Welche CD meine erste war, weiß ich leider nicht mehr, aber auch ich hatte ganz viele Maxi-CDs… Ganze Alben waren mir dann auch zu teuer. Und ich habe immer noch ganz viele Kassetten gehört, die ich selbst aufgenommen habe.
Yves Rocher gab es bei uns nicht. ;)