Betreutes Lesen (2) – „B.R.D.“

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Im zweiten Kapitel von „Sitzen vier Polen im Auto“ erfährt Ola von einem Ort namens BRD. Das tut sie nur dem deutschen Leser zuliebe, denn in Polen sprach man von „Erefen“, in Buchstaben: RFN, was die Abkürzung für „Republika Federalna Niemiec“ ist und übersetzt nichts anderes bedeutet als „Bundesrepublik Deutschland“. Auch von „DDR“ war in Polen nie die Rede, sondern nur von „Enerde“, in Buchstaben: NRD („Niemiecka Republika Demokratyczna“). Erklärungsbedürftig bleibt nur noch die Etymologie des weder an Allemagne noch an Germany noch an Deutschland erinnernde Wort „Niemcy“. Kein Pole, der es ausspricht, denkt heute noch daran, was „niemcy“ im Mittelalter, aus dem die Bezeichnung stammt, bedeutete, nämlich „die Stummen“. Niemcy waren die, mit denen die Polen sich nicht verständigen konnten, weil diese sich einer ihnen fremden Sprache bedienten.

Das Wrack einer alten Lokomotive dient Ola als Spielplatz, Versteck und Königreich. Anders als die nachgestellten Wracks von Piratenschiffen, die man auf deutschen Abenteuerspielplätzen findet, war die Lokomotive echt und sicheres Spiel nicht garantiert. Rost, herausstehende Nägel, lockere Teile, Splitter und Scherben luden zur Selbstverletzung ein. Lokomotivenwracks waren im Polen der Achtziger kein seltener Anblick. In der Kult-Serie „Alternatywy 4“ versuchen die Bewohner eines Plattenbaus, diesen mithilfe einer alten Lokomotive zu „beheizen“. :-) Mir selbst standen am Waldrand hinterm Haus fünf Lokomotiven zur Verfügung, in denen ich gerne – allerdings stehts beaufsichtigt – spielte, bevor sie zur Wende hin nach und nach verschrottet wurden. Noch heute kann man in Polen mancherorts rostige Waggons in den Wäldern finden.

Ich wurde 1988 eingeschult, im Alter von sieben Jahren. Als Sechsjährige ging ich in die „Zerówka“, die Vorschule, die das Bindeglied zwischen Kindergarten und erster Klasse bildete. Dort haben wir bereits Buchstaben und Zahlen gelernt, hatten eine Art Naturkunde sowie Kunst- und Musikunterricht, nur dass alles im Schneidersitz und eher lockerer Spielatmosphäre stattfand. Ab der ersten Klasse musste man eine Schuluniform tragen, die „fartuszek“ (Kittelchen für die Mädchen) und „mundurek“ (Uniförmchen, Hemden für die Jungs) genannt wurde. Sie waren aus blauem bis dunkelblauem Schürzenstoff, hatten meistens einen weißen Kragen und wurden über die Kleidung geknöpft. Im Klassenzimmer wurden ferner Hausschuhe getragen, die eigens für das Tragen in der Schule gedacht waren. Ich glaube, dass man in den Pausen wieder in seine Straßenschuhe schlüpfen musste. Unsere Tornister entsprachen in Form und Ausstattung dem abgebildeten Modell. Sehr populär war das Sindbad-Motiv, oder rechts und links je ein Lederherz. Alternativen gab es kaum.  Braver Respekt vor der unbedingten Autorität der Lehrerin (Lehrer gab es kaum) war selbstverständlich, und die Leistungsanforderungen waren vergleichsweise hoch. In der ersten Klasse nahmen wir durch, was in Deutschland erst in der dritten auf dem Programm stand. Es gab auch von Anfang an Noten und Leistungsdruck. Und ein wichtiger Unterschied noch: Eine Fünf war die Bestnote, die schlechteste Note eine Zwei.

In einem polnischen Internetforum schreibt eine Frau, die 1982 ein Kind zur Welt gebracht hat, über die Zustände im Krankenhaus: „Kakerlaken krabbelten über die Wände – wir hatten Angst, das Licht auszumachen – man musste sie die ganze Zeit im Auge behalten. Wir haben Wasser gekocht, mit dem wir uns dann gewaschen haben, denn im Krankenhaus gab es kein warmes Wasser.“ Eine andere erinnert sich an ihre Geburtsaufenthalt 1986: „Die Ärzte waren übermäßig um Sauberkeit besorgt und bemüht, Mütter und Kinder zu schützen, indem sie den Familienangehörigen Besuche untersagten – die Ehemänner durften nicht für einen Augenblick hereinkommen. Diese Maßnahmen haben nichts an der Tatsache geändert, dass die Sanitäranlagen voller Schimmel und Schmutz waren und wir Ohrenkneifer und Kakerlaken in unserer Kleidung fanden. Die reinste Heuchelei!“ Die Geschichten meiner Mutter, die in polnischen Krankenhäusern drei Kinder in die Öde gepresst hat, sind keinesfalls heiterer. Als mein Bruder geboren wurde, durften mein Vater und ich tatsächlich nicht zu ihr. Aus hygienischen Gründen. Durchs Fenster warf sie Briefchen zu uns herunter, in denen sie uns bat, sie mit Essbarem zu versorgen.

Ola träumt von einem MickyMaus-Pyjama. Disney-Figuren waren jedem bekannt, doch sie begegneten einem selten. Unter dem Namen „Myszka Miki“ gab es viel Gefälschtes, unförmige Plastikmäuse auf einer Schaukel etwa, die man an den Buden vom Kirchweihfest erwerben konnte.  Immerhin wurde an Weihnachten Disneys Schneewittchen im Fernsehen ausgestrahlt, und selbst meine Mutter sah in den Sechzigern Bambi im Kino. Doch Disney blieb ein unerfüllter Kindertraum, der wachgehalten wurde vom legendären „Donald-Kaugummi“, der heute zur wehmütigen Erinnerung jedes Polen gehört. Wenn man schon einen Donald-Kaugummi ergattert hatte, zum Beispiel durch die Großzügigkeit einer Tante, kaute man ihn den ganzen Tag und manchmal über mehrere Tage hinweg. Zum Essen wurde er kurz rausgenommen und an den Tellerrand geklebt. Zum Glück lohnte sich die Anschaffung eines Donald-Kaugummis, auch wenn man die Kaumasse schließlich wegschmeißen musste, denn um ihn herum gewickelt war eine Disney-Bildergeschichte, die nicht nur durch ihre Inhalte überzeugte. Das knisternde Papier roch noch Monate nach dem Kaugummi. Es war begehrtes Sammlerobjekt und ließ sich in bedürftigen Stunden gut an die Nüstern saugen.

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In der nächsten Folge: Wissenswertes über Teppichstangen, Plastik-Obst, Schrankwandvitrinen und Coca-Pola!

2 Kommentare


  1. // Antworten

    OMG, zwei Sekunden lang habe ich gedacht, dass das mein Klassenfoto ist!! Die sahen damals echt alle gleich aus!

    und dieser Arztkoffer!! Meiner wurde durch eine echte Spritze „aufgewertet“. Die Teddys haben dann auch echte Spritzen bekommen – und wurden immer schwerer, durch das ihnen injizierte Wasser. ;)

    noch heute habe ich jede Menge Donald-Bildchen, und wenn ich dran schnüffle…. mmh…. na ja, ist vielleicht Einbildung :)


    1. // Antworten

      Der Arztkoffer, gelle? Ein Traum! Besonders die schrottig weiche Brille habe ich in Erinnerung. Hatte auch echte Plastikspritzen, ein Geschenk von der bösen Krankenschwester, die sie mir setzte. >:-( Ich habe manchmal leere Tablettenblister von meinen Eltern bekommen, oder diese kleinen kurzen Plastikröhrchen, wo „kapsulki“ drin waren, ach, und natürlich die leeren Kapseln selbst, zwei verschiedenfarbige Hälften, unendlich faszinierend. Und dann gab es ja auch noch das Kindermagazin MIS, mit einem Bastelbogen in der Mitte. Einmal war ein „Medizin-Set“ zum Ausschneiden drin, inklusive Tabletten. Alles, was mir fehlte, war ein echter „czepek“ mit schwarzem oder rotem Streifen. :°)

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