Betreutes Lesen (8) – „Dojczland“ (1/2)

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Hallo Freunde und Verwirrte. Es geht wieder los! Für Neueinsteiger: „Betreutes Lesen“ ist eine Art Sekundärliteratur zu meinem Roman „Sitzen vier Polen im Auto“. Kapitel für Kapitel wähle ich alle paar Tage Themen aus, die ich „en blogue“ näher beleuchte, erläutere und bebildere, als das im Rahmen des Buches je möglich gewesen wäre. Der Gewinn? Vor allem Einblicke in die Popkultur des Ostblocks und die Köpfe der Menschen im sozialistischen System! Auf geht’s! (Eine klickbare Übersicht über die bisherigen Beiträge gibt es hier.)

Der senfgelbe Winzling hat es über die Grenze geschafft. Ola und ihre Familie sind endlich bei Onkel Marek aufgeschlagen, der ihnen sein „Dojczland“ zeigen will. Es ist Samstag, und Marek weiß, was Ola aus den Latschen kippen lassen wird: Das Kinderprogramm am Vormittag – Zeichentrickfilme auf allen Kanälen! Das hatte es in Polen nicht gegeben. Nicht an Samstagen und schon gar nicht so viele bajki am Stück. Bajki bedeutet „Märchen“ (pl.), wird aber als Synonym für Zeichentrickfilme, Stop-Motion-Filme und dergleichen Formate für Kinder verwendet. Es lief eine bajka pro Tag, und zwar als zehnminütige dobranocka (Gutesnächtchen), also ein visuelles Betthupferl für die Kleinen vor dem Schlafengehen. Das konnte „Bolek i Lolek“ oder eine Folge des DDR-schen Sandmännchens sein („Opachen, liebes Opachen, wir wollen noch nicht schlafen“). Eine sehr beliebte polnische Produktion war „Miś Uszatek“. Auch heute noch herzzerreißend süß: „Miś Colargol“ (polnisch-französisch) – unbedingt ansehen!

Daneben gab es an Sonntagabenden den westlichen 20-Minüter. „Die Schlümpfe“ (Smerfy) waren ein Riesenhit, und zurecht, die Synchronisation mit professionellen Schauspielern war phantastisch, mit der deutschen nicht zu vergleichen. „He-Man“ lief bei uns auch, es war sogar meine Lieblingsserie. Aber eine bajka nach der anderen, und das an einem Samstagvormittag, wo von jedem polnischen Kind erwartet wurde, dass es den Eltern gleich nach dem Aufstehen beim Hausputz half, das war absolut neu und aufregend!

Doch die Verwunderung hört bei der Zeichentrickschleife nicht auf. Die Episoden werden unterbrochen von etwas, das Ola in hilfloser Unwissenheit als „animierten Quelle-Katalog“ bezeichnet: Werbung. Natürlich war diese kapitalistische Wettbewerbsmaßnahme im kommunistischen Polen kaum verbreitet. Zucker war Zucker, Joghurt war Joghurt, Rock war Rock. Marken gab es, aber nicht im uns bekannten Sinn. Neben dem Schokoladenfabrikanten „Wedel“ etwa gab es keinen anderen. Im Fernsehen sah man hin und wieder „Reklame“, in der Dinge des alltäglichen Bedarfs genau dann beworben wurden, wenn sie knapp oder nicht vorhanden waren. Kein Fleisch beim Metzger? Ja, aber wenigstens in der Reklame! Es war interessant, zu beobachten, wie sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Werbebranche in Polen zu entwickeln begann. Es gab keine ausgebildeten Werbeleute im Land, keine Generation von Mad Men, die gewusst hätten, wie Marktforschung geht. Zunächst wurden also blauäugig Werbeclips aus dem Westen importiert. Nicht besonders erfolgreich. Niemand konnte sich mit einer Frau identifizieren, die ein luxuriöses Bad von der Größe eines Wohnzimmers putzte. Ein männlicher Waschmittelvertreter, der eine Hausfrau belehren wollte, konnte nur zum Gespött werden. Durch Westimporte wurde an den Werten der polnischen Gesellschaft vorbeigeworben. Das sieht heute, über 20 Jahre später, natürlich anders aus. Die liebevolle Mutter-Kind-Beziehung ist ein häufiges, polentypisches Werbemotiv. Hier eine besonders amüsant-misslungene polnische Werbung aus der Zeit des Umbruchs. LOL!!!

Als die Familie nach einer langen Reise mit ungewissem Ausgang in Dojczland ankommt, begrüßt Onkel Marek sie mit Pizza, einem Gericht, von dem sie noch nie etwas gehört haben. Marek erzählt, dass die Deutschen nichts auf ihre Nationalküche gäben, viel lieber würden sie Italienisch und Chinesisch essen. Auch darunter kann Ola sich nichts vorstellen. Warum? Weil Deutschland diese kulinarische Vielfalt seinen Gastarbeitern und anderen Zugezogenen aus aller Welt zu verdanken hat. Polen ist ja eher ein Auswanderungs- als ein Einwanderungsland, und so waren fremdländische Gerichte innerhalb der Landesgrenzen nicht bekannt. Hinzu kommt noch eine entscheidende Sache: „Essen gehen“ ist eine kulturelle Praxis, die in einem armen Land nicht erlernt werden kann. Restaurantbesuche kannte ich als Kind nur in der Form von Hochzeit oder Leichenschmaus. Das waren Ausnahmesituationen. Es galt als unvernünftig, außerhalb zu essen. Warum sollte man das tun? Warum sollte man für Essen mehr bezahlen, als für die selbstgezüchteten Kartoffeln und das selbstgeschlachtete Huhn mit Gemüse aus dem eigenen Garten? Der Gedanke, „Essen gehen“ als Freizeitaktivität zu begreifen, lag den meisten Menschen fern. Ab 1990 schossen dann Fast-Food-Filialen aus dem Boden. Nach der Sonntagsmesse war es für die Kinder das Größte, wenn die Eltern sie zu McDonalds nahmen, auf eine Tüte Pommes, die angesichts der niedrigen Löhne ein absoluter Luxus war.  Zum Abschluss ein Zitat aus Zwölf Stationen von Tomasz Rózycki, in dem es um den Einzug von Fastfood in Polen geht:

(…) So aß man hier das Mahl der Armen, der Piroggen Fastenmahl, während ganz Polen weit und breit längst anders aß, erlesener und gesünder; um Himmelswillen reichere und bessere Delikatessen, Wurst vom Grill zum Beispiel, gründlich verkohlt mit Hilfe von Benzin, das auf die Holzkohle gegossen wurde, damit die Flamme ordentlich lodert; später kamen in den Restaurants die weichen und süßen Pommes an die Macht, zubereitet aus welken Kartoffeln, denen dieses Gericht seinen scheußlichen Beigeschmack verdankte; erwähnen wollen wir schließlich auch die berühmte Baguette überbacken, Königin der Busbahnhöfe, die sich im Plastikbeutel jederzeit erhitzen lässt; und noch die Hotdogs aus mehliger Brühwurst; und die Pizza á la Polska, eine an die heimischen Verhältnisse adaptierte Version der italienischen Pizza, ohne Tomaten, ohne Käse, ohne Oliven, ohne Kräuter und Knoblauch; und schließlich der vollendete Hamburger, ein Wunderwerk aus prachtvoll gedunsener Semmel, ohne Zusatz von Mehl hergestellt; gestopft mit einer Mehrweg-Einlage aus gemahlenem Übersee-Vieh, frei von freien Radikalen und Rinderwahn, auch wenn Form und Ausdruck der Semmel das Gegenteil nahelegten. Zum Nachspülen Fanta, Sprite oder Cola: Wunder der Technik, phantastische Getränke, nach deren Genuss enorme Lebhaftigkeit Körper und Geist erfasste, verdoppelte Energie den Schädel durchtobte wie eine leere große Halle, auf der Suche nach dem Ausgang, und, war er endlich gefunden, in Form eines Gas-Geysirs aus der Nase entwich, (…)

In der nächsten Folge: anständige Kleidung, spinatgrüne Wegweiser, sozialistische Folterschaukeln und Flachdachtristesse!

2 Kommentare



  1. // Antworten

    Nicht zu vergessen „Pszczółka Maja“ (Biene Maja), Reksio (eine Verniedlichung von „Rex“, den ich neulich auf einem arabischen Satellitenkanal gesehen habe), „Koziołek Matołek“ und die Serie über den Wawel-Drachen.
    Großer Vorteil von „Bolek i Lolek“: sie sprachen nicht und erzählten trotzdem die tollsten Geschichten. Als sie sprechen lernten, haben sie den Großteil ihres Charmes eingebüßt.

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