Betreutes Lesen (7) – „Der Fluch der Klo-Hexe“

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Das siebte Kapitel ist das letzte, das in Polen spielt. Olas Familie schleicht sich im Morgendunst aus dem Kastenhaus, zwängt alle Glieder, Graupenwürste und Gepäckstücke in den kleinen Fiat und macht sich auf den Weg hinter die Grenze, nach Westdeutschland, „wo Gummibärchen an Sträuchern wuchsen und die Straßen mit weißer Schokolade gepflastert waren.“ Was ist das Aufregendste an einer solchen Reise? Unser Gedärm findet: Die polnischen Straßen! Ihr katastrophaler Zustand ist vielzitiert und legendär. Viele Wege blieben ungeteert oder waren so verkratert, dass man sich im Auto an den Sitz krallen musste, wenn man sich keine Prellungen zuziehen wollte. Bürgersteige trainierten die Balance-Kraft unserer Füßchen mit wackligen Platten, tiefen Rissen und Stolperklumpen. Der Weg nach Deutschland führte durch eine öde Kiefernlandschaft über die „autostrada“. Die Betonplatten, aus denen sie bestand, waren alt, schief geflickt und unterschiedlich tief gesunken. Wir nannten die Strecke „Waschmaschine“, denn es schleuderte einen darauf so durch, dass man taube Finger bekam. (Betonplatten siehe Abbildungen der Grenze weiter unten)

An einer Raststätte begegnen unsere Helden einer alten Frau, die Ola an die „baba jaga“ erinnert. Bei diesem Wesen handelt es sich um eine slawische Hexe, die vor allem aus russischen Märchen bekannt ist. Gemeinhin stellt man sie sich als hässliche, warzige alte Frau vor, die Böses im Sinn hat. So weit, so Hänsel und Gretel. Das Sonderbare ist ihre Behausung. Die baba jaga wohnt nämlich in einer Hütte auf Hühnerfüßen. Durch die Lüfte reist sie nicht auf einem Besen, sondern in einem Mörser. Im Polnischen wird „baba jaga“ übrigens als Synonym für „Hexe“ verwendet. Selbst eine typisch amerikanische Hexe mit spitzem Hut kann man baba jaga nennen. Weitere Bezeichnungen sind „wiedźma“ (eine polnische Hexe, die in knorrigen Weiden lebt) und „czarownica“ (Magierin).

Es gibt bestimmte Schlüsselerlebnisse, Kernerinnerungen, die alle Aussiedler gemeinsam haben. Fragt man sie, welcher Moment sich besonders in ihre Netzhäute gebrannt hat, sagen sie mit leuchtenden Augen: „Die Fahrt über die Grenze!“ Das ist bei mir nicht anders. Ich kann mich noch genau erinnern, wie hell es war unter dem Wellblechdach, und wie viel heller die Scheinwerfer strahlten, als wir erst die Grenze zur RFN/BRD überquerten! Die Fahrt selbst empfand ich wie das Intro von Knight Rider. Ein einziger Rausch, dem goldenen Sonnenuntergang entgegen. Ich las neulich ein sehr gutes Buch. Es trägt den Titel Die undankbare Fremde, die Migrationserlebnisse werden aus der Sicht einer Heranwachsenden aus der Tschechoslowakei geschildert. Die Erzählung beginnt so:

Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde. „Wie viel Licht!“, rief Mutter, als wäre das der Beweis, dass wir einer lichten Zukunft entgegenfuhren. Die Straßenlaternen flackerten nicht träge orange wie bei uns, sondern blendeten wie Scheinwerfer. Mutter war voller Emigrationslust und sah nicht die Schwärme von Mücken, Käferchen und Nachtfaltern, die um die Laternenköpfe herumschwirrten, daran klebten, mit Flügeln und Beinchen ums Leben zappelten, bis sie, angezogen vom gnadenlosen Schein, verbrannten und auf die saubere Straße herunterfielen. Und das grelle Licht der Fremde fraß auch die Sterne auf.

Auf dem Weg zu Onkel Marek trifft die Familie auf das Ehepaar Ogórek. Wegen einem Defekt am Fiat müssen Ola und ihre Mutter in ihrem Auto mitfahren, das den maluch am Abschleppseil bis an die Grenze schleift. Dorota Ogórkowa erzählt von ihren beiden Kindern. Sie heißen Isaura und Bajtek und Ola ist ganz aus dem Häuschen, dass die Mutter ihrer Tochter den Namen „des größten Fernsehstars aller Zeiten“ gegeben hat. „Die Sklavin Isaura“ war eine brasilianische Telenovela, die in den Achtzigern ganz Polen in Atem hielt. Im Buch heißt es, die Chirurgen ließen mitten in der Operation das Skalpell fallen, um sich den fiebernden Krankenschwestern im Fernsehzimmer anzuschließen. Die Serie wurde von absolut jedem geschaut. Selbst von mir, einer Fünfjährigen, die keine Ahnung hatte worum es ging, aber Isauras Frisuren immer wunderschön fand. Eines Tages kamen die beiden Hauptdarsteller zu Besuch in das Land, wo ihnen größere Verehrung zukam als in ihrer Heimat. Eine regelrechte „beatlemania“ brach aus! Hausfrauen reisten aus ganz Polen in Warschau an, um Leoncio und Isaura winkender Hand und feuchten Auges begrüßen zu können!

Und nun zum Sohnemann der Ogóreks. Angesichts seines Alters von 9-10 Jahren ist es unwahrscheinlich, dass in seiner Geburtsurkunde tatsächlich „Bajtek“ steht, denkbarer ist, dass er in Wirklichkeit „Bartek“ heißt und die Eltern ihn im Scherz „Bajtek“ nennen. Bajtek ist eine polnische Computerzeitschrift gewesen, an die ich mich bestens erinnere. Sie hat unsere ersten Gehversuche mit Atari und dem C64 begleitet und explizit Kindern und Jugendlichen (!) das Programmieren nahe gebracht. Als die Zeitschrift, die anfangs nur Beilage eines Jugendmagazins war, auch bei Erwachsenen zum Hit avancierte, hat man sie als eigenständiges Magazin herausgebracht. Trotz eines relativ hohen Preises wurde sie rege gekauft! Einmal rief die Redaktion eine Aktion aus, die meinen fiktiven Bajtek inspiriert hat: Alle, dir ihr männliches Neugeborenes „Bajtek“ nannten und dies via Geburtsurkunde beweisen konnten, bekamen einen C64 geschenkt. Wer könnte für solche Aufrufe anfälliger sein als die opportunistischen Ogóreks? (Es mangelte tatsächlich auch nicht an Eltern, die ihre Töchter Isaura nannten.)

In der nächsten Folge: Haarsträubende Abenteuer in Deutschland! 

 

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