Betreutes Lesen (3) – „Der Schatz in der Vitrine“

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Hello Kittens! Heute geht es um merkwürdige Sachen aus einem Kapitel, das Lesefaule sich als Hörspiel aus der roser Soundcloud laden können. Wer es noch nicht kennt, sollte unbedingt kucken!

Unsere erste Station ist die Plattenbausiedlung. Wir schreiben das Jahr 1988  in den Dreck. Während Kinder, deren Familie ein Haus besitzt, mit einer Baumschaukel und einem eigenen Sandhaufen gesegnet sind, müssen Hochhauskinder sich mit einer Teppichklopfstange zufrieden geben. Dieses Gestell gibt es an mehreren Stellen der Siedlung. Selten sieht man eine Latschen-Matrone wahrhaftig einen Teppich drauf schlagen. Die Teppichstange gehört tagsüber den Kindern, abends den Jugendlichen. Man kann sich dran lehnen, während man auf seine Verabredung wartet. Man kann darauf sitzen, daran hochklettern, runterhängen vom oberen oder mittleren Rohr, sich überschlagen, wie ein Äffchen hangeln und herumschaukeln. Wer auf der Teppichstange hockt, dem gehört nicht nur dieses Stück glatzig verbrannten Rasens, sein ist das ganze Königreich aus schmutzig-pastellfarben bröckelndem Beton. Hinter uns in der Ferne, unter dem Gewicht der glühend herabstürzenden Sonne, Stoppelfelder, aus denen purpurne Disteln ragen. Sehnsucht zerreißt mich noch heute, denke ich an die staubtrockene Romantik ästhetischer Einheitlichkeit, die von Werbeplakaten und weltlichem Müll unverdorbene Urbanität, inmitten derer Kinder mit nichts als Träumen von Cola-Dosen im Kopf von Teppichstangen baumelten. (Cola-Dosen gibt es in Polen mittlerweile an jeder Ecke, aber die Teppichstangen haben ihre Beliebtheit bei den Kindern nicht verloren!)

Wer zum ersten Mal mit dem Auto nach Polen reinfährt, wundert sich vielleicht über die Häufigkeit der Werbeschilder, auf denen „MEBLE“ steht: Möbel. Ich weiß nicht, warum es in Polen so viele Möbelherstellungsbetriebe gibt. Wenn mir diese Frage jemand beantworten kann, der tue dies umgehend! In Zeiten der „polnischen Volksrepublik“ waren Möbel jedenfalls Mangelware. In den härtesten Phasen der Wirtschaftskrise, als man für alles mehrere Stunden anstehen musste, ohne Garantie, überhaupt etwas zu bekommen, war der Ausdruck „Sie haben (Produkt x) geworfen“ üblich. Es bedeutete, dass eine Warenlieferung eingetroffen war. Manchmal war es Klopapier, ein anderes Mal Strampelhöschen, und manches, das „geworfen“ wurde, war eigentlich zu schwer, um es zu werfen. Schrankwände zum Beispiel. Als eines Tages Schrankwände geworfen worden waren, machten meine Eltern sich sofort auf den Weg.  Der Kauf lief so ab: Die Verkäuferin zeigte meinen Eltern die in Packpapier gewickelten Möbel. Als sie drängten, mehr sehen zu dürfen, riss sie ein Stück vom Papier ein. Fünf Zentimeter lackierter Spanplatte mit Maserung wurden sichtbar. „Nehmen wir!“, riefen meine Eltern im Glück ihrer Anspannung, denn die Schrankwand gehörte zu den Dingen, auf die sie schon seit Jahren „warteten“. Die Schrankwand, damals Teil jedes Wohnzimmers, heißt auf Polnisch „meblościanka“ (wörtlich übersetzt etwa „Möbel-o-Wändchen“) und gehört heute zu jeder polnischen Ostalgie-Party dazu wie ein ausgestopfter Vogel. Die Schrankwände unterschieden sich kaum voneinander. Allen gemeinsam war ein sogenannter „barek“, eine Bar zum Herausklappen. Das Zentrum der Aufmerksamkeit und der allgemeinen Verzückung war aber die Glasvitrine.

Hier stellte man alles aus, was man an Schätzen besaß: Behältnisse aus Kristall, bulgarische Holzflakons, polnische Folklore in Form kunstvoll geritzter Ostereier. Doch nichts war so wertvoll wie die Status-Symbole aus dem Westen: leere Getränkedosen und Schokoladennikoläuse. Nahezu jeder sammelte Dosen.  Zwar gab es in Polen Cola, aber in Glasflaschen und so teuer, dass so ein kleines Fläschchen für die ganze Familie reichen musste. Wenn man schon echte Cola trank, dann nicht um den Durst zu stillen, sondern „für den Geschmack“. Cola in Dosen („Lux!“) gab es sowieso nur im Touristenladen „Pewex“, für Dollars, und unbezahlbar. Im ganzen Land gab es keine Getränke in Dosen, deswegen waren sie als Sammelgegenstände auch so begehrt. In Alben hingegen sammelte man Müll: Verpackungen von Milka-Schokolade, CapriSonne-Tütchen, Wickelpapier von Maoam. Als mein Onkel uns aus Deutschland Leckereien mitbrachte, habe ich instinktiv alles „Wertvolle“ ausgeschnitten: Die Orange vom Aldi-Trinkpäckchen, den Bären von der Haribo-Tüte. Diese wundersamen „Bildchen“ wurden dann in einem dicken Buch gepresst. Instinktiv, weil ich im Kinderalter noch  nicht wusste, dass Andere es genauso machten.

Mindestens so berühmt wie das zerkratzte Antlitz der Mutter Gottes von Tschenstochau ist in Polen die marienförmige Weihwasserflasche aus Lourdes. Ihre abgefahrene Krone ist ein Schraubverschluss. Auch sie stand in mancher Vitrine und gehörte zu den aufregendsten Devotionalien, denen ich vor Besuchen bei meiner anderen Oma entgegenfieberte. Mein Traum war, daraus Limonade, Tee oder Milch zu trinken. Nachdem ich den unfrommen Wunsch geäußert hatte, durfte ich nicht einmal mehr mit ihr spielen. Zum Trost hing über der Tür des Betzimmers, in dem ich schlief, ein Jesus, der im Dunkeln leuchtete; eine fluoreszierende Steinschleuder als Betthupferl. Brrrrr.

So unerreichbar wie die Muttergottes waren auch Südfrüchte. In beiden Fällen war die Plastikversion ein Trost. In vielen Haushalten stand auf dem Wohnzimmertisch ein reichlich mit Obst aus Plastik gefülltes Körbchen.  Ich erinnere mich an den Obstkorb einer Großtante, aus dem ich mir bei jedem Besuch etwas aussuchen und zum Spielen ausleihen konnte. Die Banane bedeutete mir nichts. Ich verliebte mich unsterblich in eine gelbe Traube, die, von fettigen Kinderfingern bearbeitet, wie eine echte Frucht glänzen konnte. Ich wollte sie nicht mehr hergeben und versteckte sie unterm Bett, behauptend, sie wäre unauffindbar und ich könne sie nicht zurückgeben. Leider fand Oma Greta („halb Mensch, halb Besen“) die Traube sehr bald. Die Großtante ließ mich nur noch mit ihren Schuhlöffeln spielen.

 

In der nächsten Folge: Reisen ins „Rajch“, Modemarke „Made in China“ und kettenrasselnde Killer-Köter! 

 

Ein Kommentar


  1. // Antworten

    Die Cherry Coke Dosensammlung meines ersten polnischen Exfreundes (stilecht auf Regalen ausgestellt) macht plötzlich Sinn …

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