Betreutes Lesen (6) – „Das Vermächtnis des senfgelben Winzlings“

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Im sechsten Kapitel beklagen Olas Eltern die „alte Armut“ – ein feststehender Ausdruck, den man in Polen normalerweise auf die Frage „Wie geht es dir?“ entgegnet. Aber in den 1980ern war das nicht einfach nur eine Floskel. Es war das Jahrzehnt der Wirtschaftskrisen. Legendär geworden und von keiner Volksrepublik-Komödie unthematisiert geblieben sind die absurd langen Warteschlangen vor den Läden. Man bezahlte mit Rationsmarken und war auf Tauschgeschäfte angewiesen. Klopapier gegen Zigaretten, Babybrei gegen Wurst. Es gab schwerwiegende Versorgungsengpässe, beispielhaft für die Misere ist das Bild der leeren Metzgerhaken (mehr dazu in Folge 12).

Als Onkel Marek 1988 versucht, die Familie zu einer Ausreise zu überreden, hat die Krise schon einen anderen Namen: Inflation. Es wird wieder mit Geld bezahlt, man steht nicht mehr stundenlang Schlange, in den Geschäften fehlt es an nichts. Aber das Geld verliert täglich an Wert, die Preise steigen ins Unermessliche. So viele Nullen auf den Scheinen! Jeder ist Millionär! Alles ist da, aber wer kann es sich leisten? Ein simples Nachthemd kostet plötzlich ein Monatsgehalt. Die meisten von denen, die jetzt auswandern, sind Wirtschaftsflüchtlinge, die den Glauben an eine Besserung der Verhältnisse endgültig verloren haben. Trotzdem ist die Erfahrung von Armut im sozialistischen Polen eine ganz andere als in kapitalistischen Gesellschaften. Es war ja nicht so, dass es Arm und Reich gegeben hätte. Alle hatten gleich viel, beziehungsweise gleich wenig. Aus der Not erwuchs eine ungeheure Erfindungsgabe, Improvisationskunst, gestalterisches Geschick, und Kinder hatten die Chance, eine blühende Phantasie zu entwickeln. Unsere Mangelerfahrung ging nicht mit Selbstwertverlust einher, weil es niemanden gab, der auf uns herabschauen konnte, oder in dessen Schatten wir uns hätten minderwertig fühlen können. Bei aller Knappheit von Spielsachen und Spezereien war meine Kindheit – und die vieler anderer Kinder meiner Generation – im Rückblick eine überaus glückliche.

Auf dem Tisch, unter dem Ola das Gespräch der Erwachsenen belauscht, wird Żurek gelöffelt: eine saure Mehlsuppe aus vergorenem Roggenschrot. Da die Zubereitung aufwendig ist und Tage in Anspruch nimmt, gab es in jedem Dorf Żurek-Frauen, die bei sich zuhause fertig gegorenen Żurek in Gläsern verkauften.  Nun war im Glas aber noch lange nicht die fertige Suppe drin. Was nicht fehlen darf, sind die Kartoffeln. Das können entweder Kartoffelwürfel sein, oder gestampfte Kartoffeln, mit denen man den Tellerboden auskleidet. Das macht das Süppchen behaglich dick. Wer will, kann ein ganzes Würstchen reinlegen, ansonsten wird auch dieses in Scheiben geschnitten und in die Suppe geworfen. Die Polen haben übrigens eine Vorliebe für saure Suppen. Genauso populär wie Żurek ist Gurkensuppe. Beide Suppen gibt es in Polen auch als Tütensuppe von Knorr. Mein Tipp: Żurek nur kosten, wenn er hausgemacht ist. Gurkensuppe von Knorr schmeckt lecker, wenn man ein Schnäbelchen Sahne hineinploppen lässt. Guten Appetit!

Mein Buch hat eine Bauchbinde, liebe Kindler. Darauf kann man einen Auszug aus dem Inhalt lesen: „Ein Fiat Polski, den der Volksmund liebevoll maluch nannte – Winzling – war ein lächerlich kleines Auto, das man durch Schieben zum Laufen brachte und dessen Bremsen am besten funktionierten, wenn man es sanft gegen einen Baum fuhr.“ Ich freue mich, dass ich mir das mit dem Schieben nicht selbst ausdenken musste. Dem Auto lag nämlich eine Gebrauchsanweisung bei, in der diese Methode ausdrücklich empfohlen wurde. Der Fiat 126p war bis zur Wende das Fahrzeug, das polnische Straßen fast konkurrenzlos dominierte. Neben dem Oval mit dem Landeskennzeichen PL klebte oft ein Kreis mit Ahornblatt auf der Heckscheibe. Der Sticker stand für „Fahranfänger“ und ging nie wieder ab. Die unbeliebteste Fiat-Farbe soll grün gewesen sein, da Störche den Winzling mit einem Frosch verwechseln konnten. Auch rot war als Farbe nicht optimal, zu groß die Ähnlichkeit mit einem Briefkasten. Sonst aber ein super Auto, allein schon weil es keinen Parkplatz benötigte. Man konnte es sich einfach unter den Arm klemmen. Gewaschen wurde er in der Badewanne. Und wie wurden die Reifen aufgepumpt? Durch kurzes Hineinniesen!

Vor der Ausreise nach Deutschland kauft Olas Mutter MickyMaus-Jogginganzüge für die Kinder, die in ihrer phantastischen Pastellfarbigkeit selbst für die Sonntagsmesse zu schade sind. Erworben hat sie die Anzüge im „Pewex“, dem einzigen Ort, wo westliche Sachen verkauft werden dürfen – aber nur an die, die in Besitz von „Grünen“ sind (Dollars), also Touristen und alle, die sich als solche ausgeben. Die Pewex-Läden sind kleine bunte Bonbonschachteln im Grau der kommunistischen Städte. Hier gibt es westliche Zigaretten, Coca-Cola in Dosen, westliche Alkoholika, Milka-Schokolade, Haribo Goldbären, Lego und waschechte Barbies mit knickbaren Beinen. Frauen, die was auf sich halten, tragen die Pewex-Plastiktüte mit dem Schmetterling-Logo wie eine Tasche von Luis Vuitton. Aber zurück zu den pastellfarbenen Jogginganzügen. Woher die Vorstellung, dass dies die Kleidung ist, die man als Kind im Westen trägt? Die Antwort gibt ein italienischer Kinderchor namens „Piccolo Coro dell’Antoniano“, der zwischen 1987 und 1989 zahlreiche Auftritte im polnischen Fernsehen hatte – manchmal in pastellfarbenen Jogginganzügen. Im angehängten Video tragen die Kinder leider nur bunte Sweatshirts, dafür ist der Song repräsentativ für Schmackes und Lebensfreude, mit denen sie sich in die Herzen von Groß und Klein trällerten.

In der nächsten Folge: Klo-Hexen, Grenzerfahrungen, und Städte, die „Ausfahrt“ heißen!

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