„Hi, Fans!“ Hier ist das betreute Lesen zum 90s-Roman Minigolf Paradiso. Alle paar Tage eine Handvoll Erinnerungen an die Dekade unserer Sozialisation.
Im dritten Kapitel beobachtet Malina, dass ihre Mutter sich beim Einsteigen ins Auto wie die Alte aus der Dreiwettertaft-Werbung gebärdet. Ich sag nur: Die Frisur hält. Hier könnt ihr euch die Werbung von 1995 ansehen.
Das Fass, das wir jetzt öffnen müssen, heißt Frisuren. Anfang der 90er hatten meiner Erinnerung nach alle Frauen und Mädchen sogenannte „saure Dauerwellen„, kombiniert mit einer Blondierung. Vollendet war der Look mit einer Disco-Palme, die von einer schwarzen „Samtrosette“ zusammengehalten wurde. Wer keine Locken hatte, konnte mit einem surfwellenförmigen, festbetonierten Knisterpony für Furore sorgen, ein Effekt, der mit mehreren Lagen Haarspray (oder Haarlack) erzielt wurde. Etwas später besserten ein paar Freundinnen von mir ihr Taschengeld auf, indem sie Frisösen in der Ausbildung als Modell zur Verfügung standen. Sie bekamen ausnahmslos asymmetrische Frisuren verpasst, also links kurz, rechts lang oder umgekehrt. Mit mir meinte es die Haarfee aber keineswegs besser. Meine Frise war das Modell „Nick Carter“ (Backstreet Boys), obwohl ich bei der Selbstfindung eher an die prollige T-Boz von TLC gedacht hatte.
PS: Stu-Stu-Studioline !
Kaum sind ihre Eltern in den Urlaub abgezischt, geht Malina auf den Balkon rauchen. Paffend schaut sie nach unten, wo neben der grünen und der schwarzen nun auch eine gelbe Mülltonne steht. Heute haben wir die Mülltrennung derart verinnerlicht, dass wir uns kaum an die Zeit erinnern, als der „grüne Punkt“ ein Novum war und die gelben Tonnen auf dem Unterrichtsplan standen. Es muss in der neunten Klasse gewesen sein, 1996, als die Klassenlehrerin uns das „Duale System“ nahebringen musste, mit Infobroschüren und Arbeitsblättern!!! Ich weiß, dass ich damals den Zwang entwickelte, absolut jede Verpackung nach dem grünen Punkt abzusuchen, der wie eine Abstraktion des Auryn anmutete, des Amuletts aus „Die unendliche Geschichte“. Wahrscheinlich hat aber das Yin-Yang-Symbol Pate gestanden. Wie es mit allen Neuerungen so ist, musste man über die neue Praxis noch ganz lange dumme Witze machen, bevor man kommentarlos seine Joghurtbecher spülte und sie routiniert in die gelben Säcke warf. Im Ausland (beispielsweise Polen) machte man sich über die deutsche Mülltrennung noch etwas länger lustig. Das übersteigerte Umweltbewusstsein wurde dann auch zu einem Dauergast in „Was ist typisch deutsch?“-Diskursen.
Die 90er waren die vielleicht letzte Dekade des unbefangenen Konsums – und Umweltpunkte keine Coolnesspunkte. Zumindest habe ich Umweltbewusstsein mit Hirsebrei und Birkenstocklatschen assoziiert. Damals war der blaue Umweltengel auf Schulheften abgebildet, die man nun wirklich nicht haben wollte. Umweltpapier, bäh. Grau und glanzlos. Die bunten von herlitz mussten es sein, die mit den Micky- und Donald-Comics hintendrauf! Zugegeben hatte der grüne Punkt mehr Eleganz und Pep als die olle, beinahe kommunistisch anmutende Scherenschnittfigur.
Malina denkt auf dem Balkon über das Gespräch mit ihrer Mutter nach und ihr wird nach und nach klar, warum ihre Eltern so krampfhaft versuchen, ihre polnische Herkunft zu verbergen. Sie erinnert sich an die eigenen diskriminierenden Erfahrungen als Kind und stellt einen Bezug zu den Polen-Witzen von Harald Schmidt (ab 1996) her. Fahren Sie nach Polen, Ihr Auto ist schon da. Kaum gestohlen, schon in Polen, ha ha. Ich verstand nur Bahnhof. Warum wurden die Auswüchse der Grenzkriminalität pauschal allen Polen angelastet? Und warum zogen mich ausgerechnet Leute mit Polenwitzen auf, die ihre Taschen vor Kaufhausdetektiven leeren mussten? Nicht weniger rätselhaft verhielt es sich mit der satirischen Reihe „Deutsche Welle Polen“. Das machte nun wirklich überhaupt keinen Sinn. Meine Kindheit war von Kultur gesättigt: jede Woche Konzertbesuche, Theater, Ballett-Aufführungen, Kino. Schon im Kindergarten Origami statt Salzteigwurst. Ein Haus voller Bücher und Geschichten. Und dann kommen irgendwelche ignoranten deutschen Fernsehmacher daher und behaupten kackdreist, die polnische Kultur sei nicht mehr als ein Acker mit einer Kuh drauf! Meine Mutter regte sich vor allem über die Fernsehansagerin auf, die in ihrem Äußeren und ihrer Weise zu sprechen exakt der Klischee-Vorstellung entsprach, die Polen von Russen haben! (Was auch sehr interessant ist.) Klar, es war Satire. Aber lustiger wäre sie gewesen, wenn sie nicht so viel Schaden angerichtet hätte. Die offen vorgetragene Feindseligkeit, legitimiert durch Satire, war mit ein Grund, seine Herkunft lieber verbergen zu wollen.
Malina hat eine alte VHS-Kassette gefunden, auf der sie „Die unendliche Geschichte“ vermutet. Abgebildet sehen wir exakt den silbernen Schuber, von dem im Buch die Rede ist. Diese Kassetten gab es an jeder Supermarktkasse zu kaufen und sie dienten dem Aufnehmen und Überspielen von Filmen und TV-Beiträgen. Den Videorekorder zu programmieren, sodass er um eine bestimmte Uhrzeit aufzunehmen begann, war eine große Kunst. Gut, dass irgendwann Mitte der 90er Videorekorder auch „ShowView“ hatten, ein System, mit dem man nur eine Nummernkombination eingeben musste, die in Fernsehzeitschriften neben den jeweiligen Sendungen stand. Ansonsten waren Raubkopien an der Tagesordnung und ich wunderte mich sehr über Kaufkassetten und ihre unglaublichen Preise. 40 Mark für „Arielle die Meerjungfrau“? Are you kidding me? Obwohl sich das bei Disney-Filmen, die bekanntlich 100-200 mal im Leben angeschaut werden, noch rentiert haben könnte. Was mich an VHS-Kassetten noch heute fasziniert, sind die Artefakte, ihre verwischt-verschmierte Romantik. Die Unzulänglichkeiten der Technik verliehen den Epochen des 20. Jahrhunderts ihre ganz spezifische Patina. Sie ermöglichten die Nostalgie, da sie das, was die Medien festgehalten haben, so wunderbar verfremdeten. Damit ist es seit HD vorbei. >:-(
Malina erlebt einen Schock, als der Film in der Mitte abbricht und eine alte Aufnahme von „Der Preis ist heiß“ über den Bildschirm flimmert. „Jemand“ hat ihre Kassette mit einer albernen TV-Spielshow überspielt. Malinas Reaktion entspricht genau dem, was man in SPIEGEL 5/1997 anlässlich der Absetzung der Show lesen konnte:
„Auf das heitere Kommerzspiel, bei dem Zuschauer Produktpreise raten müssen, reagieren insbesondere jüngere Zielgruppen ziemlich kühl.“
Mit 10 fand ich diese Show noch ziemlich super. Besonders fesselten mich die Frauen, deren einzige Aufgabe es war, mit den Händen die Aura der vorgestellten Produkte zu umspielen. Ich war auch Fan von Harry Wijnford, der zu den Showbiz-Holländern gehörte, die damals die deutsche Unterhaltungsindustrie dominierten: Man erinnere sich nur an Linda de Mol (Traumhochzeit), Rudi Carell (Herzblatt) oder Marijke Amado (Mini Playback Show). Den holländischen Akzent nahm ich dabei als eine Art universellen TV-Akzent wahr und imitierte ihn, wann immer ich „Fersehen“ spielte. Ach ja: „Der Preis ist heiß“ gab es auch als Brettspiel.
Hier könnt ihr euch eine Folge dieser sogenannten „DAUERWERBESENDUNG“ komplett ansehen. Man beachte das alte Logo von RTL!
Welche typischen 90s-Hairstyles haben sich in euer Gedächtnis eingebrannt? Welche Frisen habt ihr selbst spazieren geführt? Hattet ihr den „grünen Punkt“ auch in der Schule? Was dachtet ihr Mitte der 90er über „die Polen“? Kennt ihr jemanden, der mal bei „Der Preis ist heiß“ mitgemacht hat? Hattet ihr ein Brettspiel zu irgendeiner (anderen) TV-Sendung? Ich bin gespannt auf noch mehr Erinnerungen!
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Es ist geradezu beschämend, wie wenig wir als Kinder begriffen haben, was für ein absurdes Spielkonzept hinter „Der Preis ist heiß“ steckte. Aber auch wir haben das mit Faszination geguckt. Frisurenprobleme hatt eich eigentlich nie, weil ich nie eine Frisur hatte, außer einmal, da habe ich versucht mir den Pony selbst zu schneiden und na ja.
Nachdem ich jetzt auch meine gesamte Brieffreundekorrespondenz der Neunziger wiedergefunden habe, habe ich sehr viel Anschauungsmaterial für umweltfreundliches Briefpapier. Gerne mit Igeln, Vögeln oder anderen naturnahen Motiven. So schön.